Das Buch von der Liebe
Erster Canto
Der vorbestimmte Begegnungsort
Doch nun waren der vorbestimmte Ort und die Stunde nah;
Ohne es zu wissen, näherte sie sich ihrem namenlosen Ziel.
Denn obgleich ein Kleid des blinden und umwegigen Zufalls
Auf das Werk des allweisen Schicksals gelegt ist,
So sind doch unsere Taten Ausdruck einer allbewussten Kraft,
Die in dem zwingenden Stoff der Dinge wohnt,
Und nichts ereignet sich im kosmischen Spiel
Als zu seiner Zeit und an seinem vorgesehenen Ort.
Sie kam zu einem Raum von milder und lieblicher Luft,
Der ein Heiligtum von Jugend und Freude schien,
Eine Hochlandwelt von freier und grüner Wonne,
Wo Frühling und Sommer beisammen lagen und stritten
Umarmt in lässigem und freundschaftlichem Streit
Und lachend eiferten, wer gebieten soll.
Erwartung schlug dort weite jähe Schwingen,
Als hätte eine Seele aus dem Angesicht der Erde geblickt,
Und alles, was in ihr war, spürte einen kommenden Wandel
Und, vergessend sichtbare Freuden und gewöhnliche Träume,
Gehorchend dem Ruf der Zeit, dem Schicksal des Geistes,
War erhöht zu einer stillen und reinen Schönheit,
Die unter den Augen der Ewigkeit lebte.
Eine Schar bergiger Häupter stürmte zum Firmament empor,
Drängend gegen die Schulter des Rivalen, der dem Himmel näher war,
Die gepanzerten Führer einer eisernen Linie;
Die Erde lag ausgestreckt zu deren Füßen aus Stein.
Darunter kauerte ein Traum von smaragdgrünen Wäldern
Und schimmernde Ränder einsam wie Schlaf:
Farblose Gewässer liefen dahin wie schimmernde Perlenschnüre.
Ein Seufzer schweifte zwischen glücklichen Blättern umher;
Kühl duftend mit gemächlichen lustbeladenen Füßen,
Taumelten leichte schwankende Brisen durch die Blumen.
Der weiße Kranich stand, ein lebendiger bewegungsloser Strich,
Pfau und Papagei juwelierten Boden und Baum,
Das leise Gurren der Taube bereicherte die verliebte Luft
Und feuergeflügelte Wildenten schwammen auf silbrigen Teichen.
Die Erde lag allein bei ihrem großen Geliebten, dem Himmel,
Dem azurblauen Auge ihres Gemahls entblößt.
In einer schwelgerischen Ekstase der Freude
Verschwendete sie die Liebesmusik ihrer Noten,
Vergeudete das leidenschaftliche Dekor ihrer Blüten
Und die festliche Fülle ihrer Düfte und Farben.
Ein Rufen und Springen und Eilen war ringsumher,
Die verstohlenen Schritte ihrer einander jagenden Gebilde,
Das struppige Smaragdgrün ihrer Zentaurenmähne,
Das Gold und Saphir ihrer Wärme und Glut.
Als Zauberer ihrer verzückten Glückseligkeiten,
Vergnügt, sinnenfroh, sorglos und göttlich,
Rann oder verbarg sich Leben in ihren wonnevollen Räumen;
Hinter allem sinnierte die grandiose Ruhe der Natur.
Urfriede herrschte dort und hielt in seinem Schoße
Ungestört den Kampf von Vogel und wildem Tier.
Der Mensch, tiefstirniger Gestalter, war noch nicht erschienen,
Um auf glücklich Unbewusstes seine Hand zu legen,
Das Denken gab es dort nicht noch den Bemesser, scharfäugig Mühen,
Das Leben kannte noch nicht den Zwiespalt mit seinem Zweck.
Die Mächtige Mutter lag behaglich ausgestreckt danieder.
Alles entsprach ihrem ersten zufriedenen Plan;
Getrieben von einem allumfassenden Willen der Freude
Blühten die Bäume in grüner Glückseligkeit
Und die Wildfänge sannen nicht über Schmerzen nach.
Am Ende ruhte ein strenges und gigantisches Gebiet
Von wirren Tiefen und ernsten fragenden Bergen,
Gipfel wie die nackte Schlichtheit einer Seele,
Gepanzert, fern und trostlos groß
Wie die gedankengeschirmten Unendlichkeiten, die da liegen
Hinter dem verzückten Lächeln von des Allmächtigen Tanzes.
Ein struppiger Waldkopf drang in den Himmel ein
Und lugte wie ein blaukehliger Asket
Aus der steinigen Festung seiner Bergzelle hervor,
Betrachtend die kurze Freude der Tage;
Dahinter lag weit ausgestreckt sein Geist.
Ein mächtiges Gemurmel einer immensen Abgeschiedenheit
Bestürmte das Ohr, ein trauriger und unerschöpflicher Ruf
Wie von einer Seele, die der Welt entsagt.
Dies war der Schauplatz, den die vieldeutige Mutter
Gewählt hatte für ihre kurze glückselige Stunde;
Hier in dieser Einsamkeit, fern der Welt,
Begann ihr Part in der Welt Freude und Kampf.
Hier wurden ihr die mystischen Höfe geoffenbart,
Die versteckten Pforten von Schönem und Erstaunlichem,
Die Flügeltüren, die da murmeln in dem goldnen Hause,
Der Tempel der Süße und der feurige Saal.
Als Fremde auf den leidvollen Straßen der Zeit,
Unsterblich unter dem Joch von Tod und Schicksal,
Darbringerin der Seligkeit und des Schmerzes der Sphären,
Traf Liebe in der Wildnis auf Savitri.
Ende des ersten Cantos