Das Buch vom doppelten Zwielicht
Erster Canto
Das Traum-Zwielicht des Ideals
Alles war noch Finsternis, schrecklich und trostlos;
Es gab weder Wandlung noch Hoffnung auf Wandlung.
In diesem schwarzen Traum, der ein Haus der Leere war,
Ein Wandeln ins Nirgendwo in einem Land des Nichts,
Trieben sie immerfort ohne Ziel und Zweck;
Düsternis führte zu schlimmerer Düsternis, Tiefe zu hohlerer Tiefe,
In irgend positivem Nichtseins planloser Weite
Durch formlose Wüsten, stumm und unerkennbar.
Ein unwirksamer Strahl von leidendem Licht
Verfolgte ihre Schritte durch das verzweifelnde Dunkel
Wie die Erinnerung an eine verlorene Glorie;
Obwohl er wuchs, schien er unwirklich dort,
Bedrängte aber des Nihils schaurig gewaltige Reich,
Unauslöschbar, beharrlich, einsam, nichtig,
Ein bleiches Gespenst aus einer toten Ewigkeit.
Es war, als müsste sie jetzt ihre Schuld begleichen,
Ihre eitle Vermessenheit, zu existieren und zu denken,
An eine glänzende Maya, die ihre Seele ersann.
Dies musste sie am meisten sühnen mit endlosen Schmerzen,
Ihre tiefe ursprüngliche Sünde, den Willen zu sein,
Und jene letzte, größte Sünde, den spirituellen Hochmut,
Das, aus Staub geschaffen, dem Himmel gleich sich stellt,
Seine Verachtung für den Wurm, der im Schlamm sich windet,
Verdammt zum Eintagswesen, geboren aus dem Traum der Natur,
Ablehnung des vergänglichen Geschöpfes Rolle,
Den Anspruch, ein lebendiges Feuer Gottes zu sein,
Den Willen, unsterblich und göttlich zu sein.
In jenem ungeheuren Dunkel, schwer und kahl,
Büßte sie für alles seit jener ersten Tat, woraus entsprang
Der Irrtum des Zeitbewusstseins,
Das Lösen des Siegels vom Schlaf des Nichtbewussten,
Die uranfängliche und unverziehene Revolte, die brach
Den Frieden und das Schweigen des Nichts,
Das da vor einem scheinbaren Weltall
In einer Leere eingebildeten Raumes erschien
Und Leben aufstieg, erzeugend Leid und Schmerz:
Eine große Verneinung war das Antlitz des Wirklichen,
Untersagend den eitlen Vorgang der Zeit:
Und wenn es keine Welt, kein Geschöpf mehr gibt,
Wenn die Einmischung der Zeit getilgt worden ist,
Wird sie weiter dauern, unverkörpert, frei von Denken, in Frieden.
Verflucht in dem, was einst ihre Gottheitsquelle war,
Verdammt für immer zu leben, leer an Seligkeit,
Ihre Unsterblichkeit ihre Züchtigung,
Zog hin ihr Geist verurteilt, schuldig des Seins,
Für immer durch ewige Nacht.
Doch Maya ist ein Schleier des Absoluten;
Eine okkulte Wahrheit schuf diese mächtige Welt:
Die Weisheit und Selbstkenntnis des Ewigen wirken
Im unwissenden Mental und in den Schritten des Körpers.
Das Nichtbewusste ist der Schlaf des Überbewussten.
Eine unbegreifliche Intelligenz
Denkt sich das tiefgründige Paradox der Schöpfung aus;
Spirituelles Denken ist in die Formen der Materie gezwängt,
Ungesehen wirft es eine stumme Energie heraus
Und erwirkt durch eine Maschine ein Wunderwerk.
Hier ist alles ein Mysterium von Gegensätzen:
Dunkelheit ist eine Magie des selbstverborgenen Lichtes,
Leiden die tragische Maskierung eines geheimen Entzückens
Und Tod ein Instrument des immerwährenden Lebens.
Obwohl der Tod auf den Straßen des Lebens neben uns geht,
Ein schemenhafter Schaulustiger zu Beginn des Körpers
Und ein letztes Gericht über die sinnlosen Werke des Menschen,
Ist das Rätsel seines vieldeutigen Antlitzes ein anderes:
Tod ist eine Treppe, eine Tür, ein stolpernder Schritt,
Den die Seele machen muss von Geburt zu Geburt,
Eine graue Niederlage, trächtig mit Sieg,
Eine Geißel, die uns zu unserem todlosen Zustand peitscht.
Die nichtbewusste Welt ist der Raum, den der Geist sich schuf,
Ewige Nacht der Schatten ewigen Tages.
Nacht ist weder unser Anfang noch unser Ende;
Sie ist die dunkle Mutter, in deren Schoß wir uns verbargen
Vor allzu raschem Erwachen zum Weltschmerz.
Wir kamen aus überirdischem Lichte zu ihr,
Vom Licht leben wir und zum Licht gehen wir.
Hier in diesem Sitz der Finsternis, stumm und allein,
Im Herzen immerwährenden Nichts,
Triumphierte Licht jetzt sogar durch diesen schwachen Strahl:
Sein zartes Eindringen durchbohrte die blinde taube Masse;
Sie nahm nun fast ein schimmerndes Aussehen an,
Das das Phantom einer hehren Sonne barg,
Dessen Ball das Auge des Nichts pupillte.
Ein goldnes Feuer kam und brannte ins Herz der Nacht;
Ihre dämmrige Mentallosigkeit begann zu träumen;
Das Nichtbewusste ward bewusst, Nacht fühlte und dachte.
Bestürmt in der souveränen Leere ihrer Herrschaft
Erbleichte die unduldsame Finsternis und zog sich zurück
Bis nur ein paar schwarze Reste den Strahl befleckten.
Doch am schwindenden Rand des stummen verlorenen Raumes
Ragte immer noch ein großer Drachenkörper mürrisch auf;
Widersacher der zäh ringenden Morgendämmerung,
Verteidigend seinen Boden gequälten Mysteriums,
Schleppte er seine Windungen durch die tote gemarterte Luft
Und floh gekrümmt den grauen Abhang der Zeit hinab.
Es gibt eine Morgendämmerung der Götter;
Wundersam entsteigen ihre Gestalten dem Schlaf
Und Gottes lange Nächte werden rechtfertigt durch den Tagesanbruch.
Ein Glanz bricht an, eine Inbrunst neuer Geburt,
Buntbeflügelte Visionen streifen über die Lider,
Des Himmels singende Herolde wecken trübäugigen Raum.
Die träumenden Gottheiten blicken über das Gesehene hinaus
Und formen in ihrem Denken die idealen Welten,
Entsprungen einem grenzenlosen Moment der Sehnsucht,
Das einst in irgend abgrundtiefem Herzen wohnte.
Vorbei war die Schwere des augenlosen Dunkels
Und all die Kümmernisse der Nacht waren tot:
Von einer blinden Freude mit tastenden Händen überrascht
Wie ein Aufwachender, der wahr seine Träume sieht,
Glitt sie in eine frohe neblige Zwielichtwelt,
Wo alles dem Licht und der Freude und der Liebe nachlief;
Dort rückten ferne Verzückungen näher
Und tiefe Vorgefühle der Wonne,
Immer willig, ergriffen und festgehalten zu werden,
Wurden nie erfasst, doch atmeten seltsame Ekstase.
Eine perlenbeflügelte Unbestimmtheit schwamm flüchtig,
Eine Luft, die nicht zu viel Licht zu ertragen wagte.
Vage Felder waren da, vage Weiden schimmerten, vage Bäume,
Vage Schauplätze, trübselig in dahintreibendem Dunst;
Weiß zog vages Vieh schimmernd durch den Nebel;
Vage Geister wanderten mit einem körperlosen Ruf,
Vage Melodien berührten die Seele und flohen verfolgt
In harmonische nicht fassbare Fernen dahin;
Formen, ungreifbar fein, und halbleuchtende Mächte,
Kein Ziel sich wünschend für ihren unirdischen Lauf,
Durchschweiften glücklich vage ideale Länder,
Oder schwebten ohne Tritt oder ihr Schreiten
Hinterließ Stapfen der Entrücktheit auf dem Boden süßer Erinnerung;
Oder sie schritten nach dem mächtigen Maß ihrer Gedanken,
Geleitet von einem leisen fernen Gesang der Götter.
Ein Kräuseln schimmernder Flügel durchstrich den fernen Himmel;
Vögel wie hellbrüstige Fantasien entflogen
Mit sanft verwirrenden Stimmen voller Sehnsucht,
Und halbgehörtes Muhen zog das lauschende Ohr an,
Als wären dort die strahlenden Kühe des Sonnengottes
Im Dunst verborgen, ziehend der Sonne entgegen.
Diese flüchtigen Wesen, diese schwer fassbaren Gestalten
Waren alles, was das Auge in Anspruch nahm und die Seele traf,
Die natürlichen Bewohner jener Welt.
Nichts aber war dort festgelegt oder verweilte lange;
Kein sterblicher Fuß fand Halt auf diesem Boden,
Kein Lebenshauch verweilte dort verkörpert.
In diesem feinen Chaos floh Freude tanzend vorbei
Und Schönheit entzog sich fester Linie und Form
Und barg ihren Sinn in Mysterien von Farbe;
Doch Frohsinn wiederholte immer die gleichen Klänge
Und gab das Gefühl einer bleibenden Welt;
Es war eine seltsame Beständigkeit der Formen,
Und dieselben Gedanken waren ständige Vorübergehende
Und alles erneuerte endlos seinen Reiz,
Immer lockend das erwartungsvolle Herz
Wie Musik, die man stets zu hören gedenkt,
Wie die Wiederkehr eines eindringlichen Reimes.
Unaufhörlich berührte man Dinge, die man nie zu fassen bekam,
Ein Saum von Welten, die unsichtbar göttlich sind.
Da fielen wie ein Schweif entschwindender Sterne
Hernieder in die dahinflutende Atmosphäre
Farben und Lichter und verschwimmende Schimmer,
Die zum Folgen in einen magischen Himmel riefen,
Und in jedem Schrei, der am Ohr verklang,
Lag der Laut einer unverwirklichten Seligkeit.
Von Anbetung war das sehnsuchtsvolle Herz erfüllt,
Ein Geist der Reinheit, eine schwer fassbare Gegenwart
Von feenhafter Schönheit und unerlangter Wonne,
Deren momentanes und flüchtiges Erschauern,
Wenngleich wesenlos für unser Fleisch
Und sogar in der Unvergänglichkeit kurz,
Viel süßer schien als irgendein gekanntes Entzücken,
Das Erde oder allbezwingender Himmel zu geben vermag.
Himmel, ewig jung, und Erde, zu fest und alt,
Halten das Herz mit Unbeweglichkeit hin:
Ihre Schöpfungsfreuden währen zu lang,
Ihre kühnen Formationen sind zu absolut;
Gestaltet durch eine Qual göttlichen Bemühens
Stehen sie gemeißelt auf den ewigen Bergen,
Oder, aus dem lebendigen Felsen Gottes gehauen,
Erlangen Unsterblichkeit durch vollkommene Form.
Sie sind mit ewigen Dingen zu vertraut:
Gefäße von unendlicher Ausdruckskraft,
Sind sie zu klar, zu großartig, zu bedeutungsreich;
Weder Nebel noch Schatten dämpfen die überwältigende Sicht,
Kein sanftes Halbdunkel einer Ungewissheit.
Nur einen goldnen Saum von Seligkeit berührten diese,
Die schimmernde Schulter irgend gottgleicher Hoffnung,
Die vorbeihuschenden Füße edler Sehnsüchte.
An einer träg bebenden Schwelle zwischen Tag und Nacht
Leuchteten sie wie Besucher vom Morgenstern,
Zufriedene Anfänge von Vollkommenheit, erste
Zitternde Vorstellungen von einer himmlischen Welt:
Sie mischten sich in einer Leidenschaft des Verfolgens,
Durchschauert von einer Freudengischt, zum Ermüden zu leicht.
Alles in dieser Welt war schemenhaft, nicht klar umrissen,
Wie Gesichter, die auf einem Fächer von Feuer tanzen,
Oder wie Wundergebilde in einem farbig verschwommenen Fleck,
Wie unechte Landschaften, in Silbernebel gemalt.
Hier wich Vision bang vor der Sicht zurück,
Klang suchte Zuflucht vor dem Ertappen durch das Ohr,
Und alles Erleben war eine hastige Freude.
Die hier erhaschten Freuden waren halbverbotene Dinge,
Zaghafte Seelenbräute, zart verschleiert,
Wie wenn einer Göttin Busen verträumt sich regt
Zu erstem Wunsch und ihre weiße Seele, verklärt,
Ein schimmernd Eden, von Feenschimmern durchflutet,
Unter feurigem Zauberstab der Erwartung bebt,
Nichts aber schon vertraut ist mit Seligkeit.
Alle Dinge in diesem lichten Reiche waren himmlisch seltsam
In einer fließenden Freude von unermüdlichem Entzücken,
In einer Beharrlichkeit von magischem Wandel.
Vorbei an schwindenden Hecken, eilenden Andeutungen von Feldern,
Auf schnell fliehenden Wegen, die ihren Füßen entflohen,
Zog sie dahin und wünschte kein Ende sich: wie jemand durch Wolken
Auf einem Bergkamm wandert und steigen hört
Zu sich empor aus verborgenen Tiefen her
Das Rauschen unsichtbarer Ströme, so wallte sie bedrängt
Von der Täuschung eines mystischen Raumes,
Spürte einen Zauber von körperlosen Berührungen und vernahm
Eine Lieblichkeit wie von hohen und gedämpften Stimmen,
Rufend wie Reisende auf suchenden Winden
Melodisch mit einem lockenden Schrei.
Wie eine alte und doch immer neue Musik,
Bewegend Eingebungen, die auf ihren Herzenssaiten weilten,
Gedanken, die nirgends Aufnahme fanden, doch sich
Mit leidenschaftlicher Wiederholung an ihr Mental klammerten,
Sehnsüchte, die nicht weh taten, glücklich nur zu leben,
Immer dieselben und immer unerfüllt,
Sangen in der Brust, einer himmlischen Leier gleich.
So konnte alles dauern, doch nichts je sein.
In dieser Schönheit wie von sichtbar gewordenem mentalen Geist,
Gekleidet in die Strahlen des Wunders, schien Satyavan
Vor ihr der Mittelpunkt von dieser Anmut zu sein,
Haupt der Lieblichkeit ihrer sehnsüchtigen Träume
Und Führer von den Fantasien ihrer Seele.
Sogar die furchtbare Hoheit von des Todes Antlitz
Und dessen düstere Trauer konnten weder verdunkeln noch zerstören
Den ungreifbaren Glanz jener fließenden Firmamente.
Der düstere Schatten, mürrisch und unerbittlich,
Ließ Schönheit und Lachen umso zwingender sein;
Verstärkt durch sein Grau, so ward Freude noch lichter und lieblicher;
Sein dunkler Kontrast, verschärfend ideale Sicht,
Vertiefte ungeäußerte Bedeutungen für das Herz;
Schmerz wurde zum zitternden Unterton der Seligkeit
Und Vergängliches zum lockeren Saum der Unsterblichkeit,
Eines Augenblicks Gewand, darin sie schöner erschien,
Steigernd durch Gegensatz ihre Göttlichkeit.
Eine Gefährtin von Strahl und Nebel und Flamme,
Gelockt von mondhellem Antlitz einen glänzenden Augenblick,
Schien fast ein Gedanke sie mitten im Gedankenfluss,
Kaum gesehen von einem visionären Mental
Inmitten der weißen inneren Betrachtungen der Seele.
Halb von dem Traumglück rings überwältigt,
Ging eine Weile sie auf einer Verzauberung Boden,
Doch blieb Besitzerin ihrer Seele noch.
Oben, da sah ihr Geist in seiner mächtigen Trance
Alles, doch lebte für sein jenseitig Werk,
Unwandelbar wie ein ewiger Fixstern.
Ende des ersten Cantos